Schwere Zeiten für die Schriftanalytiker
Von Paula Lanfranconi – Das Graphologie-Gewerbe tut sich mit modernen Assessment-Centern schwer

Gottlieb Duttweiler hätte heute keine Chance mehr. Mit seiner ungeduldig vorwärtsstürmenden Handschrift würde den Migros-Pionier kein graphologiegläubiger Personalchef an die Spitze eines Grosskonzerns hieven. „Managerschriften müssen stabil, regelmässig und druckstark sein – eher konventionell halt“ sagt der bekannte Graphologe Urs Imoberdorf.

Bis Mitte der neunziger Jahre waren solche Lehrsätze den meisten helvetischen Personalchefs heilig. In einer Studie des Institutes für Organisation und Personal der Uni Bern im Jahr 1994 gaben 77 Prozent der befragten Deutschschweizer Personalverantwortlichen an, bei der Besetzung von Kaderstellen graphologische Gutachten einzuholen. In der Romandie waren es 41 Prozent. Ähnlich hohe Quoten erreichte die Graphologie nur noch in Frankreich.

Nestlé zum Beispiel, welche der Graphologie in dieser Zeitung 1995 noch eine „Trefferquote von 75 Prozent“ attestierte, lässt ausrichten, man arbeite überhaupt nicht mehr mit diesem Verfahren. Die Credit Suisse setzt Graphologie nur noch ausnahmsweise ein. Bei Novartis wiederum arbeiten nur noch ältere Personalchefs mit Graphologie, jüngere bevorzugen moderne, computergestützte Tests. Auch Zurich Financial Services und Adecco, der weltweit grösste Personalvermittler, schicken ihre Kandidaten lieber in Assessment-Center. Dort müssen die Bewerber die bekannte Postkorbübung absolvieren, knifflige Rollenspiele überstehen – zum Beispiel jemanden entlassen oder sich mit jüngeren Nebenbuhlern auseinander setzen -, Sitzungen leiten oder Marktanalysen durchführen.

Armin Haas von Pricewaterhouse Coopers sieht einen Zusammenhang mit dem steigenden Einfluss der Angelsachsen auf die hiesige Wirtschaft: Für sie galt die Schriftdeutung immer schon als Hokuspokus. Eine Gefahr des Graphos, so Haas, sei, dass „Aussagen in einem diffizilen menschlichen Bereich schwarz auf weiss auf dem Papier stehen und dadurch in schwierigen Entscheidungssituationen zu viel Gewicht bekommen können“. Haas macht die Erfahrung, dass Fragebögen mit Multiple-Choice-Antworten und ergänzende Texts für die Kandidaten besser nachvollziehbar seien als eine Handschriftanalyse, bei der viele das mulmige Gefühl haben, es werde in allzu intimen Schichten ihrer Persönlichkeit gegründelt.

„Die Einstellung gegenüber der Graphologie ist kritischer geworden“, bestätigt Professor Francois Stoll, Professor für Angewandte Psychologie an der Uni Zürich. Er muss es wissen: Noch in den achtziger und neunziger Jahren vergaben zwei Professoren regelmässig Lehraufträge in Graphologie – allerdings eher im Sinne einer Sensibilisierung denn als Ausbildung. Das Metier, sagt Stoll, sei „weder gut noch schlecht“ und es gebe durchaus gute Graphologen. Doch sei nicht klar, ob deren Qualität auf die Graphologie zurückzuführen sei oder doch eher auf die „soziale Intelligenz“ des betreffenden Schriftanalytikers.

Doch bemüht sich die 1950 gegründete Schweizerische Graphologie Gesellschaft (SGG) um eine gewisse Qualitätskontrolle. Wer ihr beitreten will, muss eine Graphologieausbildung an der Zürcher Hochschule für Angewandte Psychologie und eine Psychologieausbildung an einer Universität oder Hochschule nachweisen.
Inhaltlich geht es bei der Graphologie immer darum, aus dem Bewegungsaspekt einer Schrift, ihrer Formgebung, der räumlichen Aufteilung eines Schriftstückes und dem Strichbild die Persönlichkeitsmerkmale und Charakterstrukturen des Verfassers zu bestimmen. So hielt der Graphologiebegründer Jean Hippolyte Michon 1875 fest, dass eine rechtsschräge Schrift Erregbarkeit bedeutet, betonte Querstriche Willenskraft signalisieren und eine kleine Schrift auf Bescheidenheit hindeutet. Dass eine kräftige, druckreiche Schrift auf Vitalität hinweist, ist für Laien ja noch nachvollziehbar, Doch allein aufgrund der Handschrift zu erkennen, ob sich jemand tatsächlich für eine bestimmte Führungsposition eignet, bleibt letztlich Berufsgeheimnis der Schriftanalytiker. „In jedes Gutachten“ gibt die Graphologin Pia Hönig zu, „fliesst ein Teil des Weltbildes des Graphologen ein“. In den Grundzügen jedoch müssten die Gutachten vergleichbar sein. Seriöse Graphologen, sagt SGG-Präsidentin Annemarie Pierpaoli, verstünden sich nicht als Schicksalsmacher: „Das Schriftgutachten soll nicht mehr als einen Viertel des Entscheidungsprozesses ausmachen. Und entscheiden müssen letztlich immer die Auftraggeber.“