Zeitschrift Fliege – Horizonte Nr. 5/2008, Christiane Sarreiter


Der eine hat eine „gestochene“ Handschrift, der andere eine „Klaue“. Was verbirgt sich dahinter? Eine Handschrift gibt Aufschluss über Charakterzüge. So kann eine Analyse hilfreich bei der Berufswahl sein, jedoch auch bei der Partnerwahl.

Vor kurzem bat mich eine 26-jährige Studentin, die bald vor ihrem Magisterabschluss steht, um ein graphologisches Gutachten. Sie wusste nicht recht, wie sie ihren weiteren beruflichen Werdegang gestalten sollte. Ihr war eine Assistentenstelle an der Uni angeboten worden. Sollte sie eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen oder, was sie sich auch vorstellen könnte, bei einer Organisation bewerben, die sich um die Integration von Angehörigen verschiedener Volksgruppen kümmert?

Das Gutachten ergab, dass besagte Studentin in einer rein wissenschaftlichen Tätigkeit nicht zufrieden wäre und theoretisches Arbeiten an einem Institut sie langweilen würde. Die große, weite Schrift mit elastischen Rhythmus und Druck verriet ihre betont emotional-praktische Art und die daraus resultierenden guten sozialen Kompetenzen. Dies lässt eine höhere Zufriedenheit erwarten, wenn sie mit Menschen umgehen und sich für Schwächere, Hilfesuchende engagieren kann. Die junge Frau wurde durch das Gutachten in ihren Vorstellungen von sich selbst bestätigt und wird nach ihrem Abschluss eine Tätigkeit in einer sozial ausgerichteten Organisation suchen.

Wie kommt die Graphologie zur ihren Aussagen?
Schreiben ist, wie Sprache, Mimik und Gestik, eine Ausdrucksform des Menschen. Der Vorteil der Schrift ist, dass sie fixiert ist auf einem Stück Papier und somit sichtbar bleibt. Selbst der Laie sieht Unterschiede zwischen unausgeschriebenen Kinderschriften und Schriften reifer Erwachsener. Auch hohes Alter, schwere psychische oder körperliche Erkrankungen, die die Motorik stören, finden in der Handschrift ihren Niederschlag und sind für jeden nachvollziehbar. Handschrift ist „Gehirnschrift“. Sie ist nicht angeboren, sondern wird mühsam erlernt. Mit zunehmender Reife entwickelt sich die Schrift, wird unbewusster, flüssiger, rhythmischer und eigengeprägter, während sie im Alter wieder gehemmter, verkrampfter werden kann.

Welche Aussagen kann die Handschriftenanalyse machen?
Handschrift ist ein Spiegel der Persönlichkeit. Grundlegende Eigenschaften wie Temperament, Extra- oder Introversion, Reizempfinden, psychische Stabilität oder Labilität finden hier ihren Ausdruck. Die Schrift macht Aussagen die Ausrichtung der Begabung und der intellektuellen Fähigkeiten. Ist der Mensch mehr praktischer oder Theoretischer Natur? Wie sind seine Willenskräfte gelagert? Die Graphologie gibt Auskunft über die psychische Beschaffenheit des Schreibers. Wie robust und belastbar ist er, wie stark ist das Selbstwertgefühl? Soziale Kompetenz wie Sensibilität für das Befinden der Mitmenschen, Konflikt- und Kritikfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit finden in der Handschrift ihren Niederschlag. Keine Aussagen kann die Graphologie machen über Alter, Geschlecht, Beruf und sozialen Status des Schreibers, ebenso wenig wie sie in die Zukunft sehen kann. Aber sie kann helfen, sich selbst und andere besser kennenzulernen und daraus Anregungen zur Bewältigung von Lebenssituationen geben.

Nicht die Aufgabe der Graphologie ist es, Schriftvergleiche, z.B. von Dokumenten zur Untersuchung der Urheberschaft und Echtheit eines Schriftstücks zu machen. Das ist das Gebiet der Schriftsachverständigen, die zum Teil auch als vereidigte Sachverständige bei Gericht arbeiten.

Viele Menschen haben Hemmungen, ihre Schrift einem Graphologen vorzulegen. Sie finden ihre Handschrift nicht „schön“. Dabei wird „Schönheit“ meist mit Regelmäßigkeit und Schulform oder, je nach Geschmack, mit Verzierungen und Ausschmückungen gleichgesetzt. Doch solche Schriften zeigen wenig persönlichen Ausdruck und wirken unecht und gemacht. Das wahre Ich des Schreibers bleibt wie hinter einer Maske verborgen. Wer versucht, seine Handschrift zu verstellen, bewegt sich langsamer über das Papier, schreibt steiler, gehemmter und druckstärker. Das geschulte Auge des Graphologen erkennt dies sofort.

Wie arbeitet eigentlich der Graphologe?
Erhält der Graphologe eine Schrift zur Begutachtung, lässt er sie zuerst auf sich wirken und macht sich einen Gesamteindruck. Wie ist der übergreifende Rhythmus der Schrift? Wirkt sie elastisch-zügig oder gehemmt? Ist das Schriftbild dicht oder lückenhaft? Wie ist der Strich, ist er sauber oder verschmiert, gleitend oder brüchig? Anschließend werden die einzelnen Merkmale betrachtet wie Größe, Lage und Weite der Schrift, Druck, Tempo, Längenunterschiede und Abstand der Wörter und Zeilen. Aus den Eindruckscharakteren der Schrift und den Einzelmerkmalen kann der Graphologe auch Schlüsse über die tiefenpsychologischen Aspekte der Persönlichkeit ziehen. Nach der Analyse fügt der Graphologe die gewonnenen Erkenntnisse in ein Gesamtbild ein, die im Gutachten, für den Auftraggeber verständlich, dargelegt werden.

Wer ein graphologisches Gutachten in Auftrag gibt, sollte mindestens eine Seite Originalschrift, möglichst frei geschrieben, mit Unterschrift, also keine Kopie, abgeben. Der freie Text gibt Aufschluss über die bewussten und unbewussten Vorgänge im Menschen. In der Unterschrift offenbart der Schreiber, wie er gern wäre und wie er sich nach Außen darstellt. Daneben benötigt der Graphologe Angaben über Alter, Beruf und Geschlecht des Urhebers. Die Altersangabe ist wichtig, da der Graphologe sieht, ob die Schrift dem Alter angemessen ist. Wenn ein 40-jähriger noch sehr an der Schulvorlage hängt, so kann dies auf Entwicklungsverzögerung hindeuten. Ebenso wie junge Erwachsene bereits sehr gekonnte, abgeschliffene Schriftzüge haben können, die auf beträchtliche geistige Reife hindeuten. Angaben über den Beruf sind insofern von Bedeutung, da verschiedene Berufe ihren typischen Ausdruck in der Schrift finden. Gestaltete Skriptschriften von Architekten unterscheiden sich sehr von großer girlandenförmiger Schrift mancher Krankenschwester. Bei Grundschullehrern finden wir meist schulmäßige Buchstabenformen, denn sie üben an der Tafel die Ausgangsschrift mit ihren Schülern ein. Die Angabe über das Geschlecht wird benötigt, da sich typische Frauen- von typischen Männerschriften unterscheiden. Frauen schreiben im Allgemeinen größer, weiter, mit runderen Formen und großer Mittelzone, Männer dagegen kleiner, verknappter, mit mehr Betonung der Ober und Unterlängen. Da sich heutzutage die Geschlechter in ihren Aufgabenbereichen immer mehr angleichen, finden wir bereits viele Männerschriften, die Frauenschriften ähneln und umgekehrt.

Wo wird die Graphologie eingesetzt?
Wenn Sie mehr über sich erfahren wollen, Ihre Stärken und Schwächen, Ihre geistige Veranlagung, Ihr Selbstwertgefühl und Ihr Wirken auf Andere, können Sie ein graphologisches Persönlichkeitsgutachten in Auftrag geben. Das graphologische Gutachten kann auch bei der Berufs- oder Studienfindung hilfreich sein. Es gibt Auskunft über die Richtung der Begabungen und der geistigen Fähigkeiten. Ein Betriebsgutachten wird von Firmen in Auftrag gegeben. Personalchefs befragen den Graphologen bei der Bewerberauslese oder bei personalen Umstellungen im Betrieb. Auch treten Firmen an den Graphologen heran, um sich über die Zusammensetzung von Arbeitgruppen beraten zu lassen. Immer wider geben Paare ein Gutachten in Auftrag, wenn sie wissen wollen, ob sie zusammenpassen oder wie sie ihr Zusammenleben besser gestalten können.