Heimliche Botschaften

Der Füller setzt auf dem Papier auf, das erste Wort erscheint. Schwungvoll, elegant, nicht zu verschnörkelt geschrieben. Schön, oder? Trifft leider fast nie auf die eigene Handschrift zu. Einkaufszettel versehen wir per Kuli mit kryptischen Zeichen, die Notizen auf dem Schreibtisch können auch in Kisuaheli abgefaßt worden sein. Das Leben ist fürs Schreiben zu kurz geworden, Schreiben bedeutet Zeit, Zeit ist Geld, und überhaupt.

Damit verlieren wir ein Stück unseres persönlichen Ausdrucks. Nicht zufällig kann uns eine geduckte und unleserliche Handschrift so unsympathisch sein wie ein Mann, der sich im Bus mit weit gespreizten Beinen gegenüber hinsetzt. In der Schule haben wir zwar alle die gleichen Buchstaben gelernt, doch mit der Zeit nehmen sie eigene Formen an – und verraten Charakter und Stimmung. Schummeln unmöglich: Wer aufgeregt ist, hat nicht nur ein Tremolo in der Stimme und spricht plötzlich lauter, sondern schreibt auch flattrig mit übergroßen Lettern.

In Ostasien spricht man von der Tuschespur des Herzens: Die Worte von frisch Verliebten sind plötzlich offener, Arbeitstiere schreiben ihren Nachnamen größer als ihren privaten Vornamen, und wer unglücklich ist, der läßt nicht nur Schultern, sondern auch die Zeilen hängen. Und: Wenn eine Frau ihren Vornamen betont und der angenommene Nachname des Mannes wirkt, als seien die Buchstaben zu heiß gewaschen worden, sollte sie sich vielleicht überlegen, ob er der Traumprinz ist. Liebe offenbart sich nämlich anders.

Handschriften sind so vielfältig wie Gesichter. Die eine sieht aus, als sei ein Insekt mit definitiv zu vielen Beinen durch einen Tintenklecks gelaufen, die andere wirkt, als ob eine durchgeknallte Eiskunstläuferin endlos Pirouetten auf dem Papier gedreht hätte. Ganz zu schweigen von der Schrift, die sich nach links neigt – vor deren Urheber haben uns schon unsere Eltern gewarnt.

Die Wissenschaft der Graphologie, die sich mit der Deutung der Handschrift befaßt, gilt in Deutschland nicht viel. So haftet der Schriftpsychologie, wie die Wissenschaft auch genannt wird, immer der Ruch der Scharlatanerie an. Die Berufsbezeichnung Graphologe ist nicht geschützt, jeder Feierabend-Psycho-Heini darf sich so nennen, seine Meinung verbreiten und so den Ruf seriöser Graphologen untergraben. Gut ausgebildete Graphologen brauchen mehr als nur ein scharfes Auge. Ist die Schrift eng oder weit? Ist sie linkslastig oder steil, verhaken sich die Zeilen, oder fallen sie ab? Mehr als zwanzig Merkmale prüfen sie vor dem Urteil. Über Fakten wie Alter, Geschlecht und Kontostand gibt die Handschrift keine Auskunft. Überraschenderweise verrät sie nicht mal, ob mit links oder rechts geschrieben wurde. In die schnöden Linien und Punkte fließt aber durch die Bewegung unser Temperament ein, der Wille und die Zuverlässigkeit. „Deswegen“, erklärt Dr. Helmut Ploog, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Graphologen, „kann man ohne psychologische Kenntnisse auch kein seriöses Gutachten erstellen.“

Graphologie ist eine Gratwanderung. Schreibt jemand die Anfangsbuchstaben eines Wortes und lange Lettern die „l“ und „h“ genauso groß wie die kleinen Buchstaben „a“ und „o“, steht das für innere Ruhe und Zufriedenheit. Ebenso kann das aber auch bedeuten, daß diese Person über den Esprit einer Nacktschnecke verfügt. Darum kommt es immer auf die Kombinationsgabe des Graphologen an. Ebenso doppeldeutige Interpretationen lassen die Merkmale für Kreativität zu. Ploog: „Die erkennt man an besonders originell gestalteten Buchstaben.“ Klingt einleuchtend, heißt aber nicht, daß Sie jedes „M“ und „E“ ab sofort zu einer barocken Freskenmalerei gestalten sollten, denn gerade übertrieben große und verschnörkelte Anfangsbuchstaben deuten darauf hin, daß es sich bei der Schreiberin um eine eitle Tussi handelt – das erkennt sogar der Laie intuitiv.

Auch auf die grauen Zellen des Schreibers lassen sich Rückschlüsse ziehen. Dr. Ploog: „Intelligenz zeigt sich daran, daß die Schrift klein, vereinfacht und besonders wegkürzend verbunden ist.“ Wegkürzend verbunden heißt, daß sie bei der g-Schleife gleich nach rechts zum nächsten Buchstaben übergeht. Oder die i-Punkte mit dem nächsten Buchstaben verschmelzen. Wer jetzt seinen Filzi zückt und in den nächsten Monaten fleißig Wegkürzungen übt, um einen besonders cleveren Eindruck zu machen, kann sich die Mühe sparen. Genauso gut können Sie versuchen, Ihre Schmunzel-Fältchen um zwei Zentimeter zu versetzen oder ab sofort nur noch in C-Dur zu lachen. Denn nicht das schnöde Üben verändert die Handschrift, sondern nur das Leben – und dessen rasantes Tempo: Wir schreiben seltener und immer nachlässiger.

Große Bedeutung hat daher die eigene Unterschrift. Wenn wir heute überhaupt noch etwas per Hand schreiben, dann meist unseren Namen. Für Graphologen ist die Unterschrift deswegen interessant, weil der Namenszug verrät, wie wir uns darstellen möchten, die Textschrift hingegen zeigt, wie wir wirklich sind. Da kann die Unterschrift noch so pompös ausfallen, das wahre Ich steht auf einem anderen Blatt.

Nichts ist verführerischer, als die Handschrift des Mannes unter die Lupe zu nehmen, dem man sein Herz geschenkt hat. Guter Plan mit einem winzigen Haken: Die Chance, daß in zwei Wochen der Weltfrieden ausbricht, ist größer, als in freier Wildbahn einen attraktiven Kalligraphen zu treffen. Kurz: Männer haben meist eine Sauklaue – weil sie durch ihre Unlesbarkeit einzigartig und unangepaßt wirken möchten. Leider offenbaren sie damit auch, daß in ihnen eine kindliche Ader und eine gewisse Rücksichtslosigkeit stecken könnte. Außerdem liegt vielen Männern an einer schönen Schrift genauso wenig wie an Klöppelarbeiten. Und: Hat ein Mann eine wohl geformte Schrift, will man ihn vermutlich eh nicht, denn wahrscheinlich kauft er täglich frische Blumen und schreibt darüber dadaistische Gedichte.

Wer es genau wissen will, schnappt sich seinen Liebesbrief, geht zum Experten und läßt ein Partnergutachten erstellen. Ploog: „Man kann erkennen, ob jemand einen schwierigen Charakter hat und ob die Unterschiede zwischen zwei Partnern sehr groß sind.“ Blöd nur, daß ein Gutachten satte 200 Euro kostet und eine Glücksgarantie leider nicht mitgeliefert wird. Und, seien wir ehrlich: Letztlich würden wir uns auch in jemanden verlieben, der wie ein Fünfjähriger krakelt. (Wiebke Borcholte)