Ein Abend neben dem Rotary Club
Jede unserer Handbewegungen hat einen besonderen Sinn: Graphologen tagten in München

Im Anfang war das Gekrakel. Einen Schönschriftwettbewerb jedenfalls hätte der junge Ludwig Klages kaum gewonnen. Aber Leserlichkeit gehörte noch nie zu den obersten Pflichten des Genies. In seinem 1917 erschienenen Werk „Handschrift und Charakter“ wies der nicht ganz unsentimentale Philosoph seinen frühen Kritzeleien einen Ehrenplatz zu: Als anonyme Handschrift Nummer eins fanden sie Eingang in den Anhang und somit in die noch junge Geschichte der Graphologie. Auch Schriftproben von Nietzsche und Napoleon hielt die Sammlung bereit, doch keiner der fremden Federn gewann Klages mehr Poesie ab als der eigenen. Der Meeresbrandung sei sie vergleichbar, denn „wie diese nicht die Deiche achtet von Menschenhand, so achtet die ungezügelte Federbewegung des Schrifturhebers die Vorschrift nicht“. Sauklaue ist eben nicht gleich Sauklaue – dem Stürmer und Dränger darf keine vorgedruckte Linie Einhalt gebieten.

Die wilden Jahre der Graphologie sind längst vorbei. Ihren Ausgang nahm die Karriere der schon immer leicht orchideenhaften Disziplin um die Jahrhundertwende in München, wo die Schwabinger Bohème das Ausdeuten von Handschriften als neuen Zeitvertreib entdeckte. Gemeinsam mit dem Bildhauer Hans Hinrich Busse und dem Psychiater Georg Meyer gründete Klages, der vorher Chemie studiert und Gedichte geschrieben hatte, 1896 die Deutsche Graphologische Gesellschaft. Das Projekt stand Künstlern, Spinnern und Wissenschaftlern gleichermaßen offen und geriet bald ins Gravitationsfeld des Antisemiten Alfred Schuler, der in München auf die Wiederkunft heidnischer „Blutleuchten“ wartete. Auf Briefbögen und Tagebuchseiten gerann plötzlich die dunkle Tinte des Lebens selbst, die dicht unter den starren Oberflächen der Zivilisation zu blubbern schien – vorausgesetzt, eine Handschrift gab sich unter dem Röntgenblick des Graphologen nicht als unbeseelte Totgeburt zu erkennen. Zur Not hielt man sich an einen Überflieger wie Stefan George: Dessen perfekte Zierschrift, die den Eindruck handgeschnitzter Druckbuchstaben erweckt, ließ laut Klages nichts mehr zu deuten übrig.

Heute sind Graphologen keine Bohemiens, sondern Freiberufler, und anstelle von Genies begutachten sie Führungskräfte und Ehepartner in spe. Zwar tagt die Zunft immer noch in München, doch nicht mehr in Schwabinger Cafés, sondern im Hotel Bayerischer Hof, wo parallel zum Deutschen Graphologentag auch Veranstaltungen der Firma Tupper und des Rotary Clubs stattfinden. Zur anerkannten Wissenschaft hat es die Kunst der Handschriftenausdeutung immer noch nicht gebracht. Wer geprüfter Graphologe werden will, der muß beim Bundesverband Geprüfter Graphologen in München Tonbandkassetten anfordern; die Prüfungsvorbereitung läuft überwiegend im Fernunterricht.

Deutsche Graphologen schwärmen gerne von Frankreich und der Schweiz, wo die Füllfederhalter nur so blitzen und das blütenweiße Schreibpapier einzig darauf wartet, die handschriftlichen Lebensläufe der künftigen Eliten in sich aufzusaugen. Denn während sich die deutschen Arbeitgeber in der Regel auf Interviews verlassen, befragen Graphologen nicht nur bei der Personalauswahl an erster Stelle die Handschrift. Unsere Schreibwerkzeuge, so ihr Hauptargument, haben wir nie ganz in der Hand. Vielmehr führt auf dem Papier das Unterbewußtsein höchstselbst die Feder. So verwandelt sich dem Graphologen Handschrift in Hirnschrift: Menschen mögen manipulieren, Nerven aber lügen nicht.

Wer nach verborgenen Triebkräften sucht, der senkt seit Freud zunächst den Blick. Kein Wunder, daß der Graphologe sein Augenmerk gerne auf die Unterlängen richtet. Als vertikale Wegweiser führen sie geradewegs in die arkanen Räume der Tiefenpsychologie. Klassikerstatus genießen offenbar die schizoiden Unterlängen, die oft im Verbund mit Binnenlücken in Einzelwörtern und einer allgemeinen Zergliederung des Schriftbildes auftreten. Sogar dem Übervater, Klages höchstselbst, weist die Graphologin Christa Hagenmeyer den anscheinend nicht ganz unattraktiven Defekt nach. Hauptsache, aus dem Unterbewußtsein gibt es überhaupt etwas zu vermelden – der aus graphologischer Sicht schlimmste Fall nämlich ist die schnöde Schulschrift.

Weniger Distinktionsgewinn versprechen Abweichungen im Mittelfeld. Ein nicht zu ästhetisches Ärgernis machen etwa Fäden im Mittelband aus, besonders wenn sie unschön aus den Wortenden heraushängen. Gerade im Kontext einer durch zackige Anschlüsse geprägten Winkelschrift ist ein eingestreuter loser Faden ein fatales Signal, das – wie die Schweizerin Esther Dosch zeigte – auch einem ansonsten ordentlichen Bewerbungsschreiben alle Glaubwürdigkeit raubt. Eingebundene Oberzeichen hingegen lassen auf den leicht depressiven Typus schließen: Selbst dem kleinsten i-Punkt, einsam über den Wipfeln der Wörter schwebend, fühlt sich der empfindsame Schreiber innerlich verbunden.

Man sieht, fast bei jedem Strich muß man Abstriche machen. Besonders in der von Sulamit Samuleit vorgestellten Familienanalyse, wo die Vorlesungsmitschriften des großen Bruders mit den Weihnachtsgrüßen des Vaters und der Postkarte der kleinen Schwester abgeglichen werden birgt die Handschrift sozialen Sprengstoff. Offene Fadenschrift, verheiratet mit schizoiden Unterlängen – das kann nicht gutgehen, zumal wenn die erwachsene Tochter mit ihrer überdimensionierten Arkadenschrift in der Pubertät steckengeblieben ist. Doch es gibt auch Augenweiden – etwa die Notizblätter von Schachweltmeistern, die Robert Bollschweiler unter die Lupe nimmt. Wohlgeordnet fließen die Schriftzeichen dahin, unwesentliche Details unterbleiben. Kampfeslust schiebt den Text bis dicht an den rechten Seitenrand, während ein lotrechter Linksrand hohe Selbstdisziplin bezeugt. Doch gibt es auch unter den Großmeistern die guten und die genialen, die Techniker und die Künstler: Der Graphologe läßt sich vom Pedanten nicht irritieren und feiert allein die Girlanden des Genies.

Folgt man Helmut Ploog, dem Vorsitzenden des Berufsverbandes, dann dient die Graphologie ohnehin fast nur der frühzeitigen Enttarnung von Hochstaplern – oder, in Ploogs Worten: der Unterscheidung zwischen Führungskräften und solchen, die es sein wollen. Ein paar Handschriftenproben hätten, wie Ploog ausführt, die New Economy vor dem durch Managementfehler ausgelösten Ruin bewahren können. So stürzt beispielsweise die Schriftfassade eines siebenundvierzigjährigen Unternehmers, der seine Firma in den Untergang manövriert hat, bereits bei der kleinsten graphologischen Stichprobe in sich zusammen. Lötungen hier, Wortzerfall dort, fehlende Buchstaben überall: Bei so einer Klaue helfen auch Krawatte und jungdynamisches Grinsen nicht weiter. Hingegen überzeugt das Schriftbold, das der neunundfünfzigjährige Vorstandvorsitzende eines deutschen Weltkonzerns mit sechzigtausend Mitarbeitern abliefert, auf Anhieb durch Ausgewogenheit und Klarheit. Druck- und Lageschwankungen im Mittelband jedenfalls, so Ploog, darf eine Führungskraft nicht aufweisen. Mit einer gepflegten Krakelschrift bewirbt man sich offenbar doch lieber bei der Bohème.

Andreas Rosenfelder