Bericht über den Graphologentag in

 München vom 26.Oktober 2019

 

Marianne Macheroux

 

Im bewährten Rahmen des Künstlerhauses am Lenbachplatz waren über 30 Teilnehmer der Einladung nach München gefolgt, um neben klassischen Themen auch neueste Entwicklungen im Bereich der Graphologie zu erfahren und zu diskutieren.

 

Dr. Urs Imoberdorf: Biographisches Schreiben – Weg zur Selbstfindung und Selbstgewissheit

Mit einem Zitat aus der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ (Nr. 40/2019) leitete der Referent seinen Vortrag ein. Biographisches Schreiben kann zur Selbstfindung beitragen. Erstes prominentes Beispiel war Clara Schumann die Pianistin und Mutter von sieben Kindern, die in ihrem Ehetagebuch (1845-54) sowohl Alltägliches als auch Berufliches von sich und ihrem Ehemann zu Papier brachte. Die Handschrift beeindruckte sowohl durch Bewegungsvielfalt und Präzision als auch durch Konzentration und einen starken Willen. Das zweite Schriftbeispiel stammte von Detlev von Uslar, einem Schweizer Psychologen und Philosophen. Seine Handschrift aus dem Jahr 1967 zeigte eine Vielzahl von Formen, Freude an Gestaltung und Funktionslust. Das dritte Schriftstück aus dem Jahr 1980 hat die heutige Präsidentin der C.G. Jung Gesellschaft in Zürich verfasst. Die Schrift der damals 37-Jährigen zeigt eine Persönlichkeit mit lebendiger Emotionalität, Offenheit, Empathie und Selbstsicherheit. Die vierte Schrift stammte von Hans Rudolf Zulliger, einem Nuklearphysiker, der in seinem Buch „Gaias Vermächtnis“ zu einem achtsamen Umgang mit der Natur aufruft. Seine Schrift weist auf Offenheit und den Blick auf das Ganze hin. Letzteres ist ja auch ein Hauptmerkmal der Graphologie.

 

Dr. Antje Telgenbüscher: Handschrift und Persönlichkeit – Frauen im Widerstand

Aufgrund von biographischen Daten und handschriftlichen Zeugnissen dreier Frauen, die im Dritten Reich im Widerstand waren, kann die Graphologie zur Persönlichkeitscharakteristik beitragen. Die erste Schrift stammte von der Studentin Sophie Scholl, die mit ihrem Bruder zur Gruppe „Die weiße Rose“ gehörte. Die Schrift offenbart intellektuelles Denken  und eine Reduzierung aufs Wesentliche, wenngleich die Schreiberin sich auch durch ihre Intuition leiten ließ. Die zweite Schrift war von der Keramikerin Cato Bontjes van Beek aus Fischerhude, die 23-jährig 1943 hingerichtet wurde. Ihre Schrift ähnelt der von Franz Kafka auf verblüffende Weise. Die dritte Schrift von Libertas Schulze-Boysen, der Ehefrau eines Widerstandkämpfers aus dem militärischen Bereich, konnte aus Zeitgründen nur angerissen werden. In dieser Schrift zeigten sich Mut, Entschlossenheit und Konsequenz. Allen drei Frauen ist gemeinsam, dass sie eine animusbetonte Schrift hatten.

 

 Dr. Christa Hagenmeyer: Anwendung holistischer und differenzieller schriftpsychologischer Modelle in der Auswahl künftiger Führungskräfte

Der Vortrag ist das Ergebnis eines Auftrages der Karl Schlecht Stiftung; Ziel ist es, aus einem Universitätsjahrgang 40 Bewerber auszusuchen, die für künftige Führungsaufgaben qualifiziert werden können. In einer Welt, die immer unsicherer und komplexer wird, sind flache Hierarchien gefragt. Die neuen Führungskräfte sollten über Einfühlungsvermögen, Flexibilität und soziale Kompetenz verfügen. Mithilfe graphologischer Diagnostik und dem an Klosinski angelehnten Phasenmodell des psychischen Entwicklungsstandes konnte eine Auswahl getroffen werden, die auf ganzheitlichen Merkmalen beruht. Grundlage war allerdings zunächst die IPU-Studie, die von Professor Schnabel, Berlin (International Psychoanalitic University) entwickelt wurde. Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Ausgeglichenheit und Eigeninitiative spielten dabei eine besondere Rolle. Anhand von fünf Schriftbeispielen ausgewählter Teilnehmer zeigte die Referentin, welch wertvollen Beitrag die Graphologie als ganzheitliches Verfahren in einem solchen Auswahlprozess spielen kann.

 

Renate Joos: Schrift und projektive Verfahren aus entwicklungs-psychologischer Perspektive

Die Entwicklung eines Menschen ist zeitlebens nie abgeschlossen. Sieht man die Handschrift als Wesen, so wird der Betrachter – wie bei der Konfrontation mit einem Kunstwerk – beteiligt und angeregt in einen Dialog mit der sich darstellenden Persönlichkeit zu treten. Bei der Schrift spielen Aspekte wie Motorik, Alter, Krankheiten oder soziales Umfeld eine Rolle, die es zu beachten gilt. Die Graphologie ist in der Lage, retrograde Untersuchungen durchzuführen, die reliabel sind, indem aufgrund eines vorliegenden Lebenslaufs festgestellt werden kann, ob die Aussagen zutreffen. Sie kann aber auch Verlaufsanalysen erstellen, indem sie in chronologischer Vorgehensweise Schriften z.B. von der Schulzeit bis ins hohe Alter untersucht. Zu berücksichtigen ist, dass diese Untersuchungen immer individuell vorgenommen werden müssen. Dabei spielen persönliche Ereignisse, z. B. die Einschulung, die „Umerziehung“ eines Linkshänders zum Rechtshänder, oder historische Begebenheiten, z.B. Krieg und Vertreibung, eine Rolle, die dem Schriftpsychologen bekannt sein müssen. Die Referentin veranschaulichte dies an einigen sehr beeindruckenden Beispielen.

 

Dr. Angelika Burns: Konfliktmoderation

Konflikte gehören zum Leben. Sie beginnen im Sandkasten und reichen bis in die höheren Ebenen von Politik und Wirtschaft. Anhand des Leitfadens von Alexander Redlich „Konfliktmoderation in Gruppen“ veranschaulichte die Referentin den „Weg durch ein unwirtliches Gelände“ mit den verschiedenen Stationen, in denen ein Moderator agieren muss, um den Weg zur Sachebene und ein angemessenes Kommunikationsklima zu erreichen. Liegen dem Moderator mit graphologischen Kenntnissen die Handschriften der Konfliktgegner vor, so kann er schon im Vorfeld einen Eindruck über die jeweiligen Persönlichkeiten gewinnen und sich eine Strategie überlegen. An einigen Schriftbeispielen wurde dies eingehend verdeutlicht. Sind die Beteiligten z. B. lösungsorientiert, so zeigt sich dies in der Schrift durch einen mittleren Spannungsgrad, adäquate Bewegungskontrolle, gute Gliederung und ein homogenes Gesamtbild.

 

Dr. Marie Anne Nauer: Sechs berufliche Funktionsprofile

Die Referentin machte zunächst einige Bemerkungen, basierend auf den Ausarbeitungen von Julius Kuhl, zu den vier psychischen Arealen des Gehirns. Daraus ergeben sich sechs Funktionstypen, wobei der ‚Motivationstyp‘ über eine gute Selbstregulation und der ‚Wirkungsorientierte Typ‘ über rationales Denken verfügt und die Fähigkeit hat, Ideen gut umzusetzen. Am Beispiel einer Manager-Schrift wurde dies gut nachvollziehbar verdeutlicht, ebenso an Beispielen für die vier anderen Typen, deren Schwerpunkte auf folgenden Eigenschaften beruhen: an Resultaten orientiert, integrative Fähigkeiten, entwicklungsorientiert, ausgeglichen und affektbetont. Zu jedem dieser Typen wurde ein Katalog an graphologischen Merkmalen anhand einer Beispielschrift vorgestellt. Genaueres über den Stil der einzelnen Typen kann man in dem Buch von Julius Kuhl et. al. „Persönlichkeit und Motivation in Unternehmen – Anwendung der PSI-Theorie in Personalauswahl und —-entwicklung“ nachlesen.

 

Sabine Grawehr: Handschriftanalyse und Persönlichkeitsprofile „Master Person Analysis“ – ein Vergleich

Die Referentin übermittelte zunächst Grüße der EGS-Vorsitzenden Rosemarie Bollinger und verwies auf die Terminverschiebung für den Kongress für Schriftpsychologie in Lindau 2020; Genaueres wird noch bekanntgegeben.

Im Folgenden stellte sie Aspekte ihrer Diplomarbeit unter kritischem Blickwinkel vor.  Es handelte sich um einen Vergleich zwischen Handschriftengutachten und einem in der Schweiz üblichen strukturierten Persönlichkeitstest (MPA) zur Verhaltensanalyse von Stellenanwärtern in Unternehmen. Der Online-Fragebogen umfasste 40 Fragen mit je vier Antwortmöglichkeiten, die spontan dahingehend beantwortet werden sollten, ob etwas zutrifft oder nicht. Die Bearbeitungszeit sollte 10 bis 40 Minuten dauern. Die Auswertung erfolgte sofort, ein anschließendes Feedback-Gespräch war zwingend vorgeschrieben. Die Arbeitshypothese, dass sich die Ergebnisse des Fragebogens und das graphologische Gutachten deckten, traf nicht zu. Ein Grund dafür war, dass ein Unterschied zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung besteht. Ideal wäre die Kombination beider Methoden zusammen mit einem gemeinsamen Feedback-Gespräch.

 

Rosemarie Gosemärker: in memoriam Teut Wallner

Die Referentin, die den deutsch-schwedischen Psychologen und Graphologen Teut Wallner persönlich kannte, veranschaulichte durch Fotos und Handschrift ihren Vortrag über diese beeindruckende Persönlichkeit. Teut Wallner wurde am 14. Juli 1923 in Berlin geboren und verstarb am 20. Dezember 2018 in Huddinge bei Stockholm. Im Zweiten Weltkrieg war er im Afrikacorps und geriet in englische Gefangenschaft. Nach dem Krieg studierte er von 1949 bis 1955 Psychologie an der FU in Berlin, gleichzeitig absolvierte er eine graphologische Ausbildung bei Müller/Enskat, die er mit einer staatlichen  Prüfung abschloss. In Schweden arbeitete er am Institut Bergström. Der Umgang mit behinderten Menschen lag ihm sehr am Herzen; einige Sozialgesetze in Schweden gehen auf seine Anregungen zurück. Eines seiner Ziele war es, die Handschriftendiagnostik methodisch aufzuarbeiten. Daher bildete die Definition der Merkmale einen Schwerpunkt seiner Arbeit. Die Erfassung der Variablen sollte zweifelsfrei möglich sein und den Kollegen aller Schulen die Möglichkeit geben, damit zu arbeiten. In seinem Lehrbuch zur Schriftpsychologie , an dem die Referentin und Renate Joos mitgearbeitet haben, legte Teut Wallner in den beiden ersten Kapiteln sein wissenschaftliches Testament nieder. Teut Wallner war ein skeptischer Geist, zuweilen auch provokant, aber immer fair und offen für Neues.

 

 

Dr. Ploog verabschiedete die Teilnehmer und Referenten mit der Bitte, beim nächsten Graphologentag 2021 wieder dabei zu sein und auch noch andere Interessenten zur Teilnahme zu  motivieren.

Auch der diesjährige Graphologentag zeichnete sich durch Beiträge auf sehr hohem Niveau aus und bot jedem die Möglichkeit zu einem anregenden Meinungsaustausch.