Rubrik Bildung und Beruf
Früher wurde er bei jeder Bewerbung verlangt, heute ist er nahezug außer Gebrauch gekommen: Der handgeschriebene Lebenslauf. Die Graphologie nämlich, die aus der Handschrift eines Menschen Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit zu ziehen versucht, gilt derzeit vielen als Pseudowissenschaft. Deutsche Unternehmen beurteilen sie als Kriterium für die Personalauswahl meist skeptisch. In anderen Ländern dagegen, etwa Frankreich und der Schweiz steht der Graphologe als Einstellungsberater hoch im Kurs.

Verräterische Linienführung
Handgeschrieben soll er sein. Ausführlich, nicht tabellarisch und mit Unterschrift. Wer zu seiner Bewerbung einen solchen Lebenslauf abliefern soll, der muss wissen, dass sein Arbeitgeber in spe noch viel mit ihm vor hat. Zumindest aber ist er gewillt, 300 bis 500 Mark für ein graphologisches Gutachten auszugeben. Ein beschriebenes Blatt Papier, DIN A4, unliniert, am Ende eine Unterschrift – für einen Graphologen ist das genug, um Aussagen über die Persönlichkeit des Verfassers zu machen. Die Handschrift als Ausdruck der Persönlichkeit: Das nutzen manche Personalchefs gerne, wenn es darum geht, eine hoch dotierte Stelle mit dem richtigen Kandidaten zu besetzen.

„Die Graphologie sehen viele als gute Alternative zum Assessment Center“, sagt Helmut Ploog, Vorsitzender des Berufsverbandes Geprüfter Graphologen in Deutschland. Die Verfahren und Methoden eines Assessment Centers seien schnell erlernbar und die Gefahr, dass die Ergebnisse stark verfälscht sind, groß: „Wer dreimal an so einem Auswahlverfahren teilgenommen hat, ist routinierter – und scheinbar besser – als ein absoluter Neuling“, meint Ploog. Das gebe zwar Aufschluss über die Lernbereitschaft des Bewerbers, sage aber nichts über dessen Persönlichkeit aus. Und genau die gilt es zu testen, denn einen Einzelkämpfer, der nur einen Nachmittag lang den kooperativen Kollegen spielt, braucht für die Teamarbeit keiner.

Doch die Vorbehalte gegenüber der Graphologie sind mindestens genauso als wie ihr Bestehen. Die Wissenschaft über die Schrift siedelt sich zwar heute im Bereich der diagnostischen Psychologie an, nur ist sie gut 300 Jahre älter. Kurz nach Erfindung des Buchdrucks interessierte man sich bereits dafür, warum keine Handschrift wie die andere aussieht. Seitdem entwickelte man verschiedene Näherungsmethoden und Typologien, um möglichst genau aus dem Schriftbild ein wahrheitsgetreues Persönlichkeitsbild ablesen zu können. „Das ist heute immerhin so genau möglich, dass die Graphologie vor allem in der klinischen Psychologie in Deutschland zur Bestimmung der Dosierung von Psychopharmaka verwendet wird“, sagt die Schriften-Kennerin Esther Dosch. Trotzdem gilt das Deuten der Handschrift vielen nicht seriöser als das Lesen aus der Hand. Aber das Vertrauen vieler Personalchefs auf die Zunft der Graphologen könnte diese Wissenschaft allmählich hoffähiger machen, denn wo es um bares Geld geht, setzt man nicht auf Hexerei – zu teuer sind Fehlentscheidungen in der Personalabteilung. In der Schweiz, Frankreich und den Benelux-Staaten sind graphologische Gutachten bei der Vergabe wichtiger Posten längst Usus. Und werden deswegen auch viel selbstverständlicher angefordert. „Mindestens 68 Prozent aller Führungspositionen in der Schweiz werden mit Hilfe eines Graphologen vergeben“, sagt die Berufs- und Laufbahnberaterin Elisabeth Keiser.

Die Scheu der Personalchefs
Anders hier zu Lande. Helmut Ploog weiß um die Scheu der Personalchefs in Deutschland, sich zur Graphologie zu bekennen: „Auch große Banken und Verlage fordern Gutachten bei mir an. Doch mit der Verwendung schriftpsychologischer Erkenntnisse geht man nicht gerne hausieren. Man verschweigt gerne, dass man seine Personalauswahl einem Graphologen anvertraut.“ Dass ein graphologisches Gutachten dabei mehr Erkenntnisse über den Bewerber preisgibt, als diesem lieb sein kann, muss nicht befürchtet werden. Den Graphologen werden die Anforderungen an die zu vergebende Stelle vom Auftraggeber erläutert, und genau nach diesen Kriterien wird die Probe dann untersucht. „Meist wird die Schrift auf Merkmale wie Flexibilität, Streitfähigkeit oder Führungsqualität getestet“, erklärt Ploog, „gute Graphologen können zwar sogar frühkindliche Störungen aus der Handschrift herauslesen – aber an die Auftraggeber werden immer nur die für die Aufgabe relevanten Informationen weitergegeben. Nicht mehr und nicht weniger.“ Die Gutachten spielen dabei nicht nur eine unterstützende Rolle: „Wenn der Arbeitgeber von einem Bewerber überzeugt ist, dessen Handschrift ihn aber für den Job disqualifiziert, wird die Entscheidung noch einmal überdacht – und in den meisten Fällen revidiert“, weiß Elisabeth Keiser.

Wie aber soll ein bisschen Handschrift den persönlichen Eindruck ersetzen und ein umfassendes Psychogramm zulassen? Wo bleiben da Ausdruck, Gestik, Verhalten, Geschichte? „Der Mensch ist natürlich viel mehr als seine Handschrift“, räumt die Schweizer Graphologin Esther Dosch ein, „doch in der Handschrift schlägt sich zunächst einmal die Körpersprache eines Menschen auf feinmotorischer Ebene nieder. Und die ist viel genauer analysierbar, als das beim Beobachten so grober Gesten wie dem Verschränken von Armen oder dem Übereinanderschlagen von Beinen möglich ist.“ Der Graphologe geht über die Körpersprache hinaus: Auf die feinen Schwingungen im Strich kommt es an: „Unter dem Mikroskop betrachtet gibt der Strich sehr genau Aufschluss über die seelische und geistige Lebendigkeit des Betreffenden. Hier verdichtet sich schließlich, was der Psychotherapeut auf seiner Couch sieht: das vitale Bild des gesamten Menschen“, meint Dosch. Genau hier gründet sich auch die Scheu vor der Graphologie: Niemand möchte in seiner Abwesenheit tiefenpsychologisch auseinander genommen werden können. Das macht die Graphologie unangenehm, fast angsteinflößend. Andererseits stellt es einen ihrer interessantesten Vorteile dar: So unabhängig wie sie von Zeit und Raum ist, lässt sie sich in der Geschichtsforschung hervorragend einsetzen. Da kann ein schlichter Briefwechsel von Alma Mahler mit ihrem Geliebten Aufschluss über den Überdruss an ihrem Mann Gustav geben. Oder die Reisegrüße von George Washington Auskunft über dessen Eignung für ein modernes Dienstleistungsunternehmen (siehe Text links oben).

Schummeln unmöglich
Schönheit und Lesbarkeit der Schrift spielen bei der Bewertung keine Rolle. Der Graphologe betrachtet lediglich die Raumverteilung des Textes, die Linienführung, das Bewegungsbild der Buchstaben oder den Druck des Stiftes auf das Papier. Ästhetische Gesichtspunkte bleiben außen vor – solange der Bewerber keine Blümchen als I-Punkte malt. Außerdem wichtig: Schummeln gilt nicht – und geht auch nicht. Denn die eigene Handschrift lasse sich nicht manipulieren, versichert Elisabeth Keiser: „Wer mit einer besonders schwungvollen Unterschrift Engagement und Selbstbewusstsein suggerieren will, sonst aber in Grundschulmanier seinen Namen aufs Papier kritzelt, wird garantiert erwischt.“

STANDPUNKT
„In 80 Prozent aller Fälle haben die graphologischen Analysen von Bewerbern Recht behalten.“

Davy Sidjanski, Inhaber und Geschäftsführer des internationalen Kinderbuchverlages Nord-Süd, bedient sich seit 15 Jahren graphologischer Gutachten. In seinem etwa 80 Mann starken Unternehmen mit Sitz in der Schweiz ist die Graphologie nichts Exotisches.

SZ: Bei der Vergabe welcher Stellen holen Sie den Rat eines Graphologen ein?
Sidjanski: Bei allen. Vom Telefonisten bis zur Abteilungsleiterin lassen wir für die vier bis zehn engsten Bewerber ein Gutachten erstellen. Eine Probe der Handschrift, ein kurzer Lebenslauf, eine genaue Beschreibung der vakanten Stelle: Das schicken wir an den Graphologen und bekommen die Analyse.
SZ: Die Handschrift einer Telefonistin deuten – ist das nicht übertrieben?
Sidjanski: Nein, wenn man bedenkt, dass auch das falsche Personal am Empfang Unruhe im Team verursachen kann.
SZ: Halten Sie die Gutachten für zuverlässig?
Sidjanski: In etwa 80 Prozent aller Fälle haben die Analysen Recht behalten.
SZ: Haben Sie schon mal gegen die Wahrheit der Handschrift gehandelt?
Sidjanski: Jein. Rät mir unsere Graphologin ganz entschieden ab, ist die Sache klar: Mappe zurück. Manchmal aber folgt man dem persönlichen Eindruck mehr.
SZ: Wie reagieren die Bewerber, wenn Sie ihre Handschrift analysieren lassen?
Sidjanski: Die meisten neugierig, viele skeptisch. Doch erstens machen wir den Bewerbern klar, dass im Bericht der Graphologin nur für den Arbeitsplatz relevante Informationen auftauchen, Team- oder Streitfähigkeit etwa. Zweitens sprechen wir alle Analysen gemeinsam mit dem Bewerber im Beisein der Graphologin durch. Da zeigt sich dann oft gesteigertes Interesse am eigenen Gutachten. Aber wer persönlichere Details erfahren möchte, der muss sich an unsere Graphologin wenden. Sowas interessiert uns nicht.
SZ: Lässt sich Teamverhalten nicht doch besser im Assessment Center testen?
Sidjanski: Nur bedingt. Wir schicken unsere Bewerber zwar auch in Assessment Center, aber für mich sind die Ergebnisse der Kandidaten meist zu durchschnittlich. Da gab es selten Signifikantes.
SZ: Würden Sie gänzlich auf die Bewerberauswahl anhand graphologischer Gutachten umstellen?
Sidjanski: Sicher nicht. Der persönliche Eindruck, Referenzen füherer Arbeitgeber, auch der Gang durch ein Assessment vervollständigen das Bild. Grundsätzlich tendiere ich aber dazu, der Graphologie – neben dem persönlichen Eindruck – den meisten Glauben zu schenken. Das hat die Erfahrung bestätigt.
Interview: Kerstin Kullmann