Was die Graphologie leisten kann und was nicht

Sie schreiben klein und eng? Die Buchstaben „g“ und „p“ hängen bei Ihnen irgendwie immer tief nach unten durch, während das „t“ und das „h“ oben ein wenig verkümmern? Zudem driftet Ihre Schrift latent nach links und ist insgesamt recht kleinwüchsig geraten? Lassen Sie das bloß keinen Graphologen sehen! Er könnte Sie für einen triebgesteuerten, gehemmten Menschen mit Komplexen und leichtem Hang zur Depression halten.

Wer schreibt, verrät sich. Oft mehr als einem bewusst ist. Denn nicht nur was der Autor formuliert, sondern vor allem wie er es zu Papier bringt, ermöglicht einen Blick in seine Psyche und Persönlichkeit. Schreiben ist nichts anderes als Körpersprache, sagen die so genannten Graphologen oder Schriftpsychologen – nur feinmotorischer. Die Schrift sei eine Art Ausdrucksspur, ein unverfälschtes Charakterzeugnis, so individuell wie ein Fingerabdruck, weswegen graphologische Gutachten vor Gericht eingesetzt werden, um zu prüfen, ob ein Testament echt ist, oder manchen Personalentscheidern helfen, den richtigen Kandidaten für einen Job herauszufiltern.

Aber funktioniert das tatsächlich? Was ist dran an dem Mythos, dass Menschen anhand ihrer Unterschrift auf Geschäftsbriefen, ihres Gekritzels auf Notizzetteln oder handschriftlich verfasster Glückwünsche durchschaubar sind?

Die Methode wird in Deutschland seit Langem praktiziert, kommendes Jahr wird sie 110 Jahre alt – und bleibt dennoch umstritten. Die Lehre der Schriftanalyse gilt vielen als esoterische Kaffeesatzleserei, als Hokuspokus – an den man, ähnlich wie die Astrologie, glauben kann oder eben nicht. Die Graphologie ist nicht einmal eine anerkannte Wissenschaft, obwohl der aus dem Griechischen stammende Begriff („Lehre von der Bedeutung der Handschrift“) genau dies unterstellt. Vielmehr ist die Schriftanalyse eine untergeordnete Disziplin der Psychologie, angesiedelt in der Persönlichkeitsdiagnostik, eine Art Röntgenapparat für weiche Charaktereigenschaften.

Mit ihrem Instrumentarium versuchen die Schriftpsychologen herauszufinden, wie leistungsfähig, ausgeglichen, reif, selbständig oder kollegial ein Mensch ist. Zwar lässt sich damit Intelligenz nicht quantifizieren, ebenso wenig handwerkliches Geschick, spezifische Reaktionen etwa bei Stress, Fachwissen oder sexuelle Neigungen. Dafür lassen sich damit, so die Überzeugung der Schriftgelehrten, selbst kaschierte oder unbewusste Facetten der Persönlichkeit aufdecken. „Die meisten Bewerber wissen doch, wie sie sich im Assessment verkaufen oder was sie zum Vorstellungsgespräch anziehen müssen“, sagt die Stuttgarter Schriftpsychologin und 2. Vorsitzende der Deutschen Graphologischen Vereinigung, Birgit Eckert, 51.

Schummeln sei dabei unmöglich, sagt sie. Denn wer versucht, seine Handschrift zu verstellen, schreibt automatisch steiler, langsamer, druckstärker und verliert an Spontaneität. Das erkennen geübte Graphologen sofort. Was diese Kunst den Objekten ihrer Anwendung unsympathisch macht: Wer hat schon Lust, sich seinem Arbeitgeber in spe seelennackt zu offenbaren?

Für Franziska Köppe war das kein Problem. Die 30-jährige Marketingmanagerin musste schon bei zwei Arbeitgebern Schriftproben abgeben, um ihren Traumjob zu ergattern. Beide Male waren es mittelständische Familienunternehmen mit über 1000 Mitarbeitern, zuletzt der Automationstechnik-Hersteller Pilz in Ostfildern bei Stuttgart. In beiden Fällen hatte Köppe zunächst eine Bewerbung eingesandt, die erste Vorstellungsrunde bestanden und war schließlich unter die drei Finalisten gelangt. „Der Personaler fragte mich dann, ob ich bereit wäre, noch eine Schriftprobe für ein Gutachten abzugeben“, erzählte die Kauffrau. Länge: eine DIN-A4-Seite, Text frei wählbar, geschrieben auf unliniertem Papier, mit Kuli oder Füller. Sie willigte ein.

Geprüft werden sollte, was in der Ausschreibung stand – also wie durchsetzungs- und teamfähig, belastbar, zuverlässig und kommunikationsstark sie ist. Offenbar war sie es, denn sie bekam beide Male den Job. Als sie die Gutachten später las, war sie überrascht, wie „treffsicher“ (Köppe) die Schriftgutachter nicht nur ihre persönlichen Stärken, sondern auch einige Schwächen entziffert hatten. „Beruflich geschadet hat mir das nicht“, sagt sie. Im Gegenteil: Die Rückmeldungen haben ihr geholfen, ihre Wirkung auf andere „besser zu verstehen“.

Für ein Gutachten brauchen Graphologen mehrere Quellen. Zuerst eine ganzseitige Schriftprobe mit Unterschrift. Wer aus weniger seine Schlüsse zieht, arbeitet den Regeln der Zunft zufolge unseriös. Zusätzlich benötigen die Gutachter Daten über den Schreiber, zum Beispiel Alter und Geschlecht sowie ob er Links- oder Rechtshänder ist. Das lässt sich aus der Schrift nicht erkennen, ist aber wichtig für die Interpretation. Meist benötigen die Gutachter zudem Informationen über Ausbildung und den derzeitigen Beruf des Untersuchten sowie das Anforderungsprofil für den Job. Denn geprüft wird nur, was den Auftraggeber interessiert.

Danach beginnt die eigentliche Analyse : Wie ist das Gesamtbild der Schrift? Ist sie klar oder krakelig? Flink oder zögerlich? Fleckig oder trocken? Statisch oder zittrig? Gleichmäßig oder schwankend? Dieser erste grobe Eindruck liefert den Graphologen wichtige Indizien über die Persönlichkeit und das Temperament des Autors. Anschließend geht es ins Detail: Die Größenverhältnisse der Anfangsbuchstaben werden genauso untersucht wie der Schreibrhythmus, ob alle Buchstaben eines Wortes miteinander verbunden sind oder nur Teile davon, ob die Buchstaben mager oder voll wirken, ob sie sich nach links oder rechts neigen, wie stark mit dem Stift aufgedrückt wurde und wie groß die Wortabstände sind.

Zum Schluss die Unterschrift: Verrät das Anschreiben, wer der Verfasser ist, so offenbart seine Signatur, wer er gerne wäre und wie er sich nach außen darstellt. Sie entlarvt seinen Ehrgeiz und sein Selbstbewusstsein, etwa durch übergroße Anfangsbuchstaben oder betonte Endungen.

„Insgesamt gibt es 20 Einzelmerkmale die wir unterscheiden“, sagt Helmut Ploog, 65, Vorsitzender des Berufsverbandes geprüfter Graphologen/Psychologen und Dozent an der Psychologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ganz eindeutig sind diese Merkmale allerdings nicht. Eine nach links geneigte Schrift kann genauso von Zurückhaltung zeugen wie von übermäßigem Kontrollbedürfnis, während eine rechtsschräge Schrift meist bedeutet, dass der Verfasser der Welt zugewandt ist. Eventuell ist er aber auch impulsiv und unbesonnen. „Einzelmerkmale sind nie eindeutig“, sagt die Lehrbeauftragte für Schriftpsychologie an der Universität Leipzig, Gabriele Schmidt, 51. „Erst mit einiger Erfahrung und im Kontext mit anderen Kennzeichen kann man eine sichere Diagnose stellen.“

Dabei spielt es keine Rolle, ob einer eine Sauklaue hat, unleserliches Krickelkrakel zu Papier bringt oder auffallend schön schreibt. Entscheidend sind vielmehr die Größenverhältnisse der so genannten Ober-, Mittel- und Unterlängen innerhalb einzelner Worte sowie ob jemand seine Lettern mit Schnörkeln schmückt oder grundsätzlich oben oder unten auf der Zeile beginnt. Ein Narzisst beispielsweise zeichnet sich meist durch übergroße Anfangsbuchstaben sowie auffällig linkslastige Schleifen aus; teamunfähige Menschen dagegen schreiben oft unregelmäßig, eigenwillig bis hin zu Unleserlichkeit häufig in Form spitz auslaufender Bewegungen.

Solche psychologischen Rechtschreibregeln lassen sich ebenso zu einem Idealbild stilisieren. Der perfekte Manager müsste laut Ploog so schreiben: druckstark (steht für Tatkraft und Belastbarkeit), die Buchstaben vereinfacht (Blick fürs Wesentliche), aber originell verbunden (Logik). Dazu eine einheitliche Rechtsneigung, die Zielstrebigkeit und Konsequenz verrät. Vor allem Gleichmäßigkeit sei für Manager „enorm wichtig“, sagt Ploog, denn starke Links-Rechts-Schwankungen stehen für Entschlussschwäche.

Schriftgutachten werden nicht nur für Manager erstellt, sondern häufig auch für Elektroingenieure oder Softwareentwickler. Ein professionelles, bis zu drei Seiten umfassendes Gutachten kostet im Schnitt zwischen 150 und 300 Euro. Das ist immer noch vergleichsweise günstig. Die in Ausleseverfahren vorherrschenden Assessment-Center sind mit rund 2000 Euro pro Führungskraft und rund 1200 Euro pro Jobeinsteiger deutlich teurer. Trotz dieses Vorzugs wenden nur wenige Unternehmer die Schriftproben an oder bekennen sich gar dazu, wie etwa Bertelsmann-Matriarchin Liz Mohn, die es „beeindruckend“ findet, „wie treffsicher diese Methode zur Persönlichkeitserkennung ist“.

Auch Jens Brandenburg, 57, Partner der Personalberatung Brandenburg & Partner in Düsseldorf, schaltet „im Zweifel“ einen Graphologen ein, allein schon um „mehr Sicherheit zu haben und manche Eigenschaften präziser zu sehen“. Insgesamt hat der gelernte Anwalt und Ex-Manager schon über 100 Schriftgutachten in Auftrag gegeben, meist für Top-Manager, Vertriebs- und Einkaufsleiter oder Technische Direktoren.

„Nach unseren Interviews wissen wir zwar oft, woran wir bei dem Kandidaten sind. Aber manche Charakterzüge bleiben dennoch unklar“, sagt Brandenburg. So erinnert er sich gut an einen Verkaufsleiter, der ausnehmend freundlich und glatt auftrat. Das käme bei diesem Typ Mensch zwar häufig vor – der Personalberater aber wollte wissen, ob der Verkäufer auch das nötige Rückgrat besitzt, ob er sich vor seine Mitarbeiter stellen würde, wenn es darauf ankommt, ob er diszipliniert arbeiten kann. „In den Gutachten steht dann kein windelweiches Blabla“, sagt Brandenburg, sondern auch mal ein harsches Urteil wie „für diese Position nicht geeignet“.

Ihre Wurzel hat die Disziplin in Frankreich. Jedenfalls die gewerbliche. Die Erkenntnis, dass man an der Schrift „die Natur und Eigenschaften des Verfassers erkennt“ formulierte bereits 1622 der Italiener Camillo Baldi in einem Traktat. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert kam die neue Lehre schließlich auch nach Deutschland. In München entdeckte zunächst die Schwabinger Bohème das Deuten von Manuskripten als neuen Zeitvertreib. 1896 gründete hier auch Ludwig Klages, der vorher Chemie studiert und Gedichte verfasst hatte, gemeinsam mit dem Bildhauer Hans Hinrich Busse und dem Psychiater Georg Meyer die Deutsche Graphologische Gesellschaft. Später orientierte sich die Graphologie zunehmend am tiefenpsychologischen Menschenbild von Carl Gustav Jung und Sigmund Freud. In den Sechzigern erlebte das Fach eine kurze Blüte: Es wurde erstmals an Psychologie-Lehrstühlen gelehrt und geprüft, unter anderem in Freiburg bei Professor Robert Heiß.

Danach allerdings orientierte sich die Psychologie zunehmend an der Forschung in den USA, während die Graphologie in Deutschland von Künstlern und Wissenschaftlern gleichermaßen betrieben wurde. Zu ihrem Schaden: Bis heute ist die Schriftdeutung ein ungeschütztes Handwerk. Jeder Quacksalber, der nicht mehr als einen Volkshochschulkurs besucht hat, kann sich Graphologe nennen und Jobeinsteiger oder Ehepartner in spe auf ihre Passgenauigkeit begutachten.

Das zweite große Handicap: Die Disziplin verfügt weder über eine kontrollierte, empirische Forschung noch über ein e einheitliche Ausbildung. Gut 80 Prozent des angewendeten Wissens stammen aus der graphologischen Gründerzeit „Das zentrale Problem der Graphologie liegt in der schlechten Validität“, klagt der Organisationspsychologe Uwe Kanning, 39, von der Universität Münster. Vergleicht man massiv psychisch gestörte Menschen mit unauffälligen Probanden, so lassen sich deutliche Unterschiede in der Handschrift feststellen.

Allerdings ist dieses Ergebnis ziemlich banal, denn die psychische Störung lässt sich in der Regel auch ohne graphologisches Gutachten leicht diagnostizieren. „In der Personaldiagnostik geht es jedoch um Differenzen im Normalbereich des menschlichen Verhaltens“, sagt Kanning.

Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen dazu liefern „keine zufriedenstellenden Ergebnisse“, räumt auch der renommierte Stockholmer Psychologe und geprüfte Graphologe Teut Wallner, 82, ein, der zahlreiche Studien dazu verfasst hat. So kämen verschiedene Gutachten über eine Person durchaus zu übereinstimmenden Ergebnissen. Kritiker monieren zudem, dass nicht erkennbar sei, ob die Qualität der Gutachten auf die Graphologie oder auf die soziale Intelligenz der Schriftanalysten zurückzuführen sein. Dass diese durchaus eine Rolle spielt, räumen selbst die Schriftdeuter ein. Denn nicht alle Merkmale lassen sich messen. Einige, wie Schreibrhythmus, Ebenmaß oder Originalität der Buchstaben, müssen die Graphologen „schätzen“, gibt Schriftexperte Ploog zu, „und das ist für viele Wissenschaftler ein Problem“.

Nicht nur für die. Auch bei Personalern hat die Disziplin nicht das beste Ansehen und wird kaum noch genutzt. Auch deshalb, weil sich heute bereits über 50 Prozent aller Arbeit Suchenden elektronisch via Internet oder E-Mail bewerben und die restlichen Bewerbungsmappen zu 99 Prozent aus dem Drucker stammen – Schriftauswertung unmöglich. Die Graphologen selbst schätzen, dass hier zu Lande nur eine Minderheit von zehn Prozent der Unternehmen ihren Analysen trauen. Zum Vergleich: In Frankreich sind es weit über 50 Prozent. Ebenso in der Schweiz.

Was auch an der Ausbildung liegt. Qualitätswächter sind in Deutschland keine Hochschulen, sondern allein die drei großen Verbände, der Berufsverband geprüfter Graphologen/Psychologen (BGG/P) in München, die Deutsche Graphologische Vereinigung (DGV) in Heidelberg und der Fachverband Deutscher Graphologen (FDG) in Lüneburg. Mitglieder sind darin aber gerade mal rund 120 „geprüfte“ Graphologen. Vermutlich werden die Clubs deshalb bald fusionieren.

Die Graphologie ist ein aussterbender Beruf. „Die Alten sterben weg und Junge kommen kaum nach“, beklagt die Bielefelder Graphologin und FDG-Vorsitzende Rosemarie Gosemärker, 67, den biologischen Mitgliederschwund. Das Gros der deutschen Schriftgelehrten ist weit über 50 Jahre als, die meisten sind Frauen, die über soziale Berufe oder als Psychologinnen zu dem Handwerk gekommen sind. Für junge Leute ist der Beruf unattraktiv.

Wer sich seriös zum Graphologen ausbilden lassen will, muss mit mindestens drei Jahren kalkulieren. In dieser Zeit gehen die Eleven bei einem Graphologen in die Schule, absolvieren parallel Seminar, Wochenend- und Fernkurse bei einem der drei Verbände und verfassen unter Aufsicht ihres Mentors bis zu 100 Gutachten. Als krönender Abschluss gilt schließlich die Prüfung bei einem namhaften Verband.

Eine der wenigen, die davon leben können, ist die Leipziger Graphologin Gabriele Schmidt, die den Beruf seit über zehn Jahren ausübt. Eigentlich habe sie Naturwissenschaften studiert, erzählt sie, doch über einen privaten Kontakt zu einer Schriftpsychologin wurde sie von dem Metier so fasziniert, dass sie noch zu DDR-Zeiten bei ihr in die Schule ging. Heute schreibt sie rund 30 Gutachten im Monat. Ihre Auftraggeber stammen alle aus dem Westen, da im Osten kaum noch ein Unternehmen einstelle. Die meisten sind inhabergeführte Mittelständler, die sie anrufen, wenn Managementposten besetzt werden sollen, sagt Schmidt.

Wobei sie vor allem dann beauftragt wird, wenn ein Personaler ein mulmiges Gefühl bei einem Kandidaten hat. „Jedes Verfahren hat seine eigenen Messfehler“, räumt auch Graphologie-Kritiker Kanning ein. „Da macht’s am Ende die Kombination aus mehreren Methoden.“

So sind graphologische Tests nach Ansicht des Münchner Schriftpsychologen Ploog vor allem darin erfolgreich zwischen Führungskräften zu unterscheiden – „und solchen, die es sein wollen“. Ab einem bestimmten Hierarchieniveau könne man schließlich die Leute nicht mehr in Rollenspiele oder Assessments schicken. Einer seiner Auftraggeber habe etwa von einem Bankmanager, den er nach Moskau entsenden wollte, wissen sollen, wie ehrlich und psychisch stabil der Mann ist. Ploog: Das können Sie in keinem Interview erfragen.“

Schriftgutachten sind „für uns nur ein Mosaikstein in der Bewerbung“, bestätigt auch Elmar Leitermann, Personalchef beim Automationstechnikhersteller Pilz, der Schriftgutachten seit über drei Jahren bei allen Einstellungen, vom Lehrling bis zur Führungskraft, einsetzt. In fünf Prozent der Fälle kommt es sogar vor, dass die Gutachten Eigenschaften aufdecken, die im Interview verborgen blieben. „Allerdings“, sagt Leitermann, „besprechen wir mit jedem Kandidaten die Ergebnisse der Analyse“.

Das ist ein freiwilliger Akt. „Einen rechtlichen Anspruch, sein Gutachten hinterher einzusehen, gibt es nicht“, sagt der Düsseldorfer Arbeitsrechtler Michael Kliemt. Wer eine Schriftprobe abgibt, sollte wissen, worauf er sich einlässt. Denn womöglich untersucht der Gutachter dabei nicht nur den Charakter, sondern auch die Gesundheit. So zeigen jüngste Forschungen einen Zusammenhang zwischen Handschrift und neurologischen Krankheiten – noch bevor klinische Symptome auftreten. Patienten mit Zwangsneurosen beispielsweise schreiben dann plötzlich sehr klein. Ebenso Parkinson-Kranke, die den Stift zudem langsamer führen. Während sich Alzheimer bereits früh durch unruhige Schrift mit wechselnden Tempophasen abzeichnet.

Aber manche Dinge will man vielleicht auch gar nicht wissen, wenn man schon den Job nicht bekommt.

DER TEST
Was taugen graphologische Gutachten wirklich? Die WirtschaftsWoche hat dazu einen kleinen, nicht wissenschaftlichen Test durchgeführt und zwei Schriftproben von sehr unterschiedlichen Menschen von zwei angesehenen Graphologen begutachten lassen, die nicht wussten, um wen es sich dabei handelt. Die Analysen wurden von mehreren guten Bekannten der Betroffenen wie von ihnen selbst als „sehr zutreffend“ bezeichnet. Hier die vollständigen Statements der Graphologen zu den Probanden:

Testperson 1: Mann, Ende 50
„Bei dem Schreiber handelt es sich um einen hochintelligenten Menschen, der seine Energie zu starker Entschlusskraft bündelt. Bei großer Denkweite beobachtet er genau, erfasst die Sachverhalte objektiv und kommt so zu selbstständigen Urteilen. Er denkt sowohl abstrakt als auch konkret, in der Regel sogar sehr präzise. Seine besondere Stärke liegt jedoch in seiner enormen Assoziationsleichtigkeit, die als hohe synthetische Intelligenz einen Blick für Zusammenhänge ermöglicht, die von vielen anderen Menschen nicht gesehen werden.

Eine weitere Besonderheit ist, dass er vorsichtig und detailgenau agiert, also durch die vielseitige Aufgeschlossenheit im Denken nichts an Genauigkeit verliert. Dabei ist er konsequent auf Wesentliches konzentriert, kritisch im Denken und rasch im Erstellen von Konzepten.

Was seinen Arbeitseinsatz betrifft, so ist er ein Workaholic, der ein hohes Leistungs- und Durchhaltevermögen beweist bei gelegentlich impulsiven Reaktionen. Sein Ideenreichtum und sein lebhaftes Temperament machen ihn ungeduldig, eventuell eigenwillig und auch hartnäckig. Er ist von seinen Projekten voll überzeugt und stets mit dem Herzen dabei. Als intensiver und zweckmäßiger Arbeiter zählen für ihn Ergebnisse. Für seine Mitarbeiter ist er nicht immer voll berechenbar und nicht alle werden ihm sofort folgen können. Zudem ist er bei seinem ausgreifenden Intellekt gelegentlich leicht ambivalent, weil er zu viele Möglichkeiten sieht. Auch lässt er es an Härte und Konsequenz im Durchsetzen seiner Vorstellungen nicht fehlen. Insgesamt eine kantige Persönlichkeit von hoher Individualität, die im Bereich der Teamarbeit vor allem mit der Anpassung anderer rechnet“.

(Helmut Ploog, geprüfter Schriftpsychologe und Vorsitzender des Berufsverbandes Geprüfter Graphologen/Psychologen sowie Dozent an der Psychologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München)

Testperson 2: Mann, Ende 50
„Der Handschrift nach wirkt der Autor psychisch deutlich jünger als er ist. Das ist nicht nur bedingt durch seine unbeeinträchtigte vitale Basis, sondern vor allem durch die Tendenz zur Idealbildung, welche immer eine noch frei spielende psychische Energie voraussetzt. Diese jugendliche Fähigkeit bestimmt sein persönliches Colorit und dürfte sich auf mehreren Ebenen auswirken.

Zunächst hat der Schreiber ein hohes Ich-Ideal entwickelt, dem er nachzuleben trachtet. Dazu gehören im Kontaktbereich eine überaus liebenswürdige Haltung und perfekte Manieren. Die betonte Konzilianz im Umgang hat auch damit zu tun, dass ihm uneingeschränkte Wertschätzung seitens seiner Umgebung wichtig ist. Glaubwürdig werden diese Komponenten im Kontaktbereich aber erst durch die emotionale Wäre, Ausstrahlung und Herzlichkeit dieses Mannes. Er ist freundschaftsfähig und von großer Konstanz im Verhalten. Die Zugewandtheit im Kontakt sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schreiber im Grunde sehr auf seinen eigenen Standpunkt bezogen bleibt, insofern als er sich auch hinsichtlich seiner Lebensziele und Prinzipien an ausgeprägten Wertmaßstäben und Idealbildern orientiert. So wird es triftige Argumente brauchen, um ihn von einmal gefassten Meinungen und Plänen abzubringen, in der privaten Sphäre ebenso wie in der beruflichen. Auch Kritik an seinen Vorstellungen nimmt er, wenn überhaupt, nur ungern zur Kenntnis. Die positive Seite der Fixierung des Schreibers aufs Eigene ist die Verlässlichkeit im Denken und Handeln. Wohl stellt er entschiedene Anspräche, bevor er sich tiefer einlässt. Eine Aufgabe muss langfristige Befriedigung versprechen und auch im Sinne der Selbstverwirklichung sinnstiftend für ihn sein. Findet er jedoch einmal nach grünlicher Prüfung die maßgebenden Voraussetzungen erfüllt, bindet er sich tief gehend und übernimmt Verantwortung.

Welcher Aufgabe er sich auch immer verpflichtet – er wird sie mit Sorgfalt und großem Durchhaltewillen ausführen. Trotz seinen ästhetischen Bedürfnissen bleibt genug Raum für sachlichen Kalkül und Aufmerksamkeit für das Gesamtgeschehen. Fantasie und Weitblick gehen eine glückliche Verbindung ein, sodass mit ausdauernder fruchtbarer Tätigkeit zu rechnen ist.“

(Esther Dosch, Diplom-Graphologin der Schweizerischen und Europäischen Graphologischen Gesellschaften und Fachpsychologin)

Was die Schrift über den Schreiber verrät.
Eine Schönschrift ist wie ein hübsches Kleid: Sie kann vieles kaschieren. Graphologen greifen deshalb lieber auf Manuskripte in der persönlichen Alltagsschrift zurück. Kaum zu deuten ist auch die Druckschrift. Sie ist zu unpersönlich. Alles andere aber entlarvt den Autor. Egal, ob unleserliches Gekritzel oder Schreibschrift – am meisten achten die Schriftpsychologen auf die so genannte obere, mittlere und untere Zone. Die Mittelzone ist der Bereich, in dem die Kleinbuchstaben m, n oder e liegen, die beiden anderen Zonen bilden die der Buchstaben b, d, h, k, l und t, beziehungsweise g, j, p, q und y. Betonte Oberlängen verraten den Schriftgelehrten intellektuelle Interessen und wie begeisterungsfähig der Autor ist. Sind sie verkümmert, wird das als geistige Faulheit ausgelegt. In der Mittelzone wiederum drückt sich das Selbstwertgefühl des Schreibers aus. Je ausladender die Schrift, desto größer sein Ego. Ausgeprägte Großschreiber können stolz, großmütig oder aufgeblasen sein, andererseits auch voller Taten- und Freiheitsdrang. Aus den Unterlängen schließen die Schriftgutachter auf die Triebe sowie die materiellen und praktischen Interessen des Autors. Verkürzte Unterlängen zeigen wenig Durchsetzungskraft, innere Zurückhaltung sowie mangelnden Antrieb an. Ein weiteres wichtiges Merkmal sind die Bindungsformen, also wie einzelne Buchstaben verbunden werden. Die Graphologen unterscheiden dabei zwischen Arkade, Girlande, Winkel und Faden. Eine Arkade ist die bogenförmige Wölbung, wie sie etwa im Buchstaben „m“ vorkommt. Weil sie oben geschlossen ist, symbolisiert sie Verschlossenheit und Zurückhaltung. Ein Arkadenschreiber ist schwer aus der Reserve zu locken und gibt nur ungern sein Innenleben preis. Das Gegenstück dazu ist die Girlande, also wenn das „n“ wie ein „u“ aussieht. Girlandenschreiber sind aufgeschossene, kontaktfreudige, freundliche Menschen. Allerdings ist die Ausprägung entscheiden: Ist die Girlande weit und kelchförmig, gibt der Autor sein Wissen gerne weiter, ist sie eng und tief, kann das genauso für einen gehemmten Eigenbrötler sprechen.

Winkelschreiber wiederum malen ihre Konsonanten eher als Zickzacklinien. Wer so schreibt, gilt als willensstark, entschlossen und durchsetzungsstark – manchmal aber auch als verbohrt und unduldsam. Von Fadenschriften spricht man, wenn die Buchstaben „m“ und „n“ als einfacher, waagrechter Strich (Faden) erscheinen. Fadenschreiber sind oft Opportunisten – sie drücken sich gern vor schweren Entscheidungen, bleiben vage und versuchen, ohne größere Anstrengung ans Ziel zu kommen. Im Extrem sind sie intrigant und verschlagen. Ein drittes Kriterium ist die Schräglage. Eine überwiegend nach links geneigte Schrift wird als Selbstbezogenheit und Selbstbeherrschung interpretiert. Rechtsschrägschreiber dagegen gelten als warmherzig, ungezwungen und kontaktfreudig. Sie können sich aber auch durch Unbeständigkeit und mangelnde Disziplin auszeichnen. Schreiber, deren Handschrift senkrecht im Lot steht, gelten als besonnene nüchterne Menschen mit wenig Temperament – bis hin zur Teilnahmslosigkeit.

Der Wortabstand zeigt viel über die Haltung des Autors. Klaffen große Lücken zwischen den Worten, spricht das für dessen geistige Klarheit, eine große Übersicht und genügend Abstand zu Dingen und Menschen. Im Extremfall aber auch für Kontaktprobleme, vielleicht sogar Vereinsamung. Enge Wortzwischenräume dagegen finden sich oft bei Menschen, die sehr emotional bis chaotisch sind. Ihnen fehlt häufig die sprichwörtliche Distanz.

Mit den Anfangs- und Endbetonungen schließlich drückt der Schreiber sein Geltungsbedürfnis aus. Wer beispielsweise seine Wörter mit ausladenden Schnörkeln oder übergroßen Buchstaben beginnt, dokumentiert damit Stolz, Elan und Einsatzfreude – allerdings auch den Wunsch nach Größe, Anerkennung und Überlegenheit. Sind die Wortanfänge verkümmert, offenbart sich dagegen Bescheidenheit, Zurückhaltung, eventuell auch Unsicherheit, Zurückhaltung, eventuell auch Unsicherheit. Die Endbetonung wiederum spricht für einen willensstarken Menschen mit Hang zur Opposition. Er besitzt in der Regel wenig Taktgefühl – ganz im Gegensatz zu Schreibern, deren Wortenden ruhig und klein auslaufen. Sie sind meist gute Diplomaten, sind aber auch leicht beeinflussbar.

Warum Schriftanalysen in Frankreich gang und gäbe sind.
Stellungnahme des Frankreichkorrespondenten der Wirtschaftswoche Gerhard Blaeske:

Das Urteil eines Graphologen kann zuweilen hart ausfallen: „Der Kandidat hat ein schwach ausgebildetes Selbstbewusstsein und ist psychisch zerbrechlich“, wurde einem ansonsten positiv beurteilten Bewerber attestiert. Klaus Herterich, seit mehr als 30 Jahren deutsch-französischer Personalberater in Paris, hatte den Kandidaten vorgeschlagen und wollte der Sache auf den Grund gehen: Im persönlichen Gespräch gab der Bewerber zu, dass er seit Jahren täglich 80 Kilometer mit dem Auto zur Arbeit fuhr und deshalb massiv unter Stress stand. Er war psychisch angeschlagen und verwundert, dass das in seiner Schrift so deutlich herauskam.

Schriftgutachten spielen in Frankreich bei der Bewerberauswahl in den Unternehmen seit jeher eine wichtige Rolle und sind – im Gegensatz zu Deutschland – durchweg üblich und anerkannt. Allerdings kriselt es in der Branche. Angelsächsische Auswahlverfahren, der Kostendruck in den Unternehmen, vor allem aber die zunehmenden Bewerbungen via E-Mail und Internet verdrängen auch in Frankreich die Graphologie. „Das Internet hat die Bewerbung revolutioniert“, sagt Christian Dulcy, Vizepräsident der renommierten Société Francaise de Graphologie (SFDG). Während Bewerbungen in Frankreich traditionell aus einem handschriftlichen Anschreiben und zwei Seiten Lebenslauf bestanden, müssen Graphologen heute „immer häufiger Schriftproben extra anfordern“, sagt Dulcy.

Insgesamt sinkt die Bedeutung der Graphologie. Noch 1999 griffen 95 Prozent der Unternehmen „gelegentlich“ auf graphologische Gutachten zurück, 50 Prozent bedienten sich der Schrift sogar systematisch. Heute sind es nach Angaben von Claude Toffart-Derreumaux, Präsidentin des Verbandes Groupement des Graphologues Conseils de France (GGCF), nur noch „mehr als 50 Prozent“ der Unternehmen, die die Graphologie ab und an nutzen, Parallel hat sich auch die Zahl der Schriftgutachter auf derzeit rund 2000 aktive halbiert.

Die Gründe für die im internationalen Vergleich immer noch hohe Bedeutung der Schriftanalyse sind vielfältig. Frankreich ist zum einen die Wiege der gewerblichen Graphologie. Der Begriff stammt von dem Geistlichen Jean-Hippolyte Michon, der ihn um 1870 aus den griechischen Wörtern graphein (schreiben) und logos (Kunde, Bedeutung) zusammenfügte. Michons „Méthode pratique de Graphologie“ von 1878 gilt noch heute als Standardwerk. Michon war es auch, der die SFDG gründete. Ursprünglich wurde die neue Lehre vor allem bei der Wahl des richtigen Berufes angewendet. Ebenso bei potenziellen Heiratspartner. Zur Akzeptanz der Graphologie wesentlich beigetragen hat aber ein Gerichtsverfahren. Durch einen Schriftvergleich konnte 1906 die Unschuld des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus nachgewiesen werden, der 1894 wegen angeblicher Spionage für Deutschland zu lebenslanger Verbannung verurteilt worden war. Dreyfus wurde rehabilitiert. Hinzu kommt, dass in Frankreich Schrift und Schriftbild seit jeher eine wesentlich größere Bedeutung haben als in Deutschland. Auf eine „schöne“ und in deutschen Augen verschnörkelte Schrift wird großer Wert gelegt – sie wird in der Grundschule, aber auch in den weiterführenden Schulen benotet. Formale Fehler können zu deutlichen Notenabzügen führen. Bis heute müssen in Frankreich vor Gericht einige Dokumente handschriftlich vorgelegt werden. Einen weiteren Grund sieht Toffart-Derreumaux schließlich darin, dass in Frankreich bereits früh auf nationaler Ebene ein strenges und strukturiertes Ausbildungssystem für Graphologen entwickelt wurde. Die Diplome von SFDG und GGCF waren bis in die Siebzigerjahre staatlich anerkannt.

Entsprechend arbeiten neben vielen freiberuflichen Kollegen auch einige Graphologen heute direkt in den Personalabteilungen von Unternehmen. Die Einkommen der Freiberufler indes variieren stark. Dulcy etwa kommt auf einen Umsatz von etwa 220.000 Euro im Jahr. Ein Spitzensatz. Die Mehrheit muss mit weitaus weniger auskommen. Die Stundensätze liegen in der Regel bei 120 Euro für private Analysen und bis zu 130 Euro für Unternehmen.

Insgesamt gibt es bis zu zehn Berufsverbände, einige haben jedoch nur regionale Bedeutung. Am renommiertesten ist die Ende des 19. Jahrhunderts gegründete SFDG, die auch vierteljährlich eine Fachzeitschrift herausgibt mit einer Auflage von rund 5000 Exemplaren.

Obwohl graphologische Analysen bisweilen erheblich am Selbstbewusstsein der Kandidaten kratzen können, werden sie von französischen Bewerbern als selbstverständlich betrachtet. Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass sie über die Anfertigung einer Schriftanalyse informiert werden müssen und Anspruch auf Vertraulichkeit haben. Viele Bewerber sind aber selbst ausgesprochen interessiert am Ergebnis. Auch Marianne Henneman, Personalverantwortliche von Daimler Chrysler France, zieht regelmäßig eine Graphologin zu Rate – vor allem wenn es um die Einstellung externer Bewerber geht und sie bei ihnen persönliche Probleme vermutet. „Ich arbeite mit einer sehr seriösen und kompetenten Dame zusammen, die ich seit Jahren kenne“, sagt sie. Allerdings ist für Henneman die Schriftanalyse nie ausschlaggebend, sondern nur ein zusätzliches Hilfsmittel.