Hinter Schnörkeln will man sich verstecken
Graphologen halten die noch wenig genutzte Handschriftanalyse für den aussagekräftigsten Bewerbertest
„Sauber und ordentlich müsst ihr schreiben. Die Handschrift ist euer Aushängeschild.“ So predigte der Lehrer und hatte dabei diesen strengen Blick aufgesetzt. Gegen die „Klaue“ der Schüler hatte der gute Mann zwar keine Chance, aber die Sache mit dem Aushängeschild stimmt wohl. Graphologen sagen, sie könnten aus zu Papier gebrachten Zeilen den Charakter eines Menschen ablesen.
In der deutschen Wirtschaft wird diese Technik allerdings eher selten genutzt. Viele Personalchefs halten sie für unseriös – und manipulierbar. Sie verlassen sich lieber auf harte Fakten. Ganz im Gegenteil zu unseren Nachbarn in Frankreich, der Schweiz und den Beneluxstaaten. Dort werden rund 80 Prozent der Bewerber anhand eines graphologischen Gutachtens eingestellt.
„Eine Handschriftanalyse gibt dem Arbeitgeber ein Gesamtbild des Bewerbers, während andere Einstellungstests nur Bruchstücke der Persönlichkeit zeigen“, erläutert Helmut Ploog die Vorzüge der Graphologie. Für den Vorsitzenden des Berufsverbands Deutscher Graphologen sind die in der Industrie und Wirtschaft sehr beliebten Assessment-Center ein „invalides Mittel“ zur Mitarbeiterfindung. Bei diesen zum Teil mehrtägigen Auswahltreffen werden die Bewerber in Rollenspielen und Einzelinterviews auf Teamfähigkeit und Führungskraft geprüft. Auf die unterschiedlichen Vorkenntnisse der Teilnehmer wird im Assessment-Center keine Rücksicht genommen. „Wer das Prozedere dreimal mitgemacht hat, weiß, worauf es ankommt, und scheint dann besser zu sein als seine Konkurrenten“, sagt Ploog.
Die Handschrift lässt sich nach Aussage der Graphologen jedoch nicht manipulieren. Bestimmte schrifttypische Merkmale tauchen auch dann auf, wenn jemand versucht, seine Handschrift zu verstellen. Deutlich wird das bei Menschen, die nach einem Unfall plötzlich mit dem Fuß oder dem Mund schreiben müssen. Ihr Schreibstil ändert sich durch die Umstellung nicht. Die Größe, der Schwung und die Buchstabenform bleiben.
Der Manager schreibt druckstark
Die Handschrift betrachten Schriftpsychologen als Körpersprache auf feinmotorischer Ebene. Sie lässt Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Schreibers zu. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Schrift schön oder lesbar ist. Es geht vielmehr darum, ob ein Mensch besonders groß schreibt oder winzig klein oder ob er Schnörkel macht. Auch der Schreibrhythmus, der Druck des Stifts auf das Papier, Form und Abstände der einzelnen Buchstaben, die Aufteilung auf dem Blatt oder die Schrägneigung der Schrift werden von den Graphologen genau unter die Lupe genommen.
Eine typische Managerschrift müsste nach Beschreibung von Helmut Ploog so aussehen: druckstark, vereinfacht, die Buchstaben wegsparend und originell verbunden. Dazu eine starke Rechtsneigung, die für Aufgeschlossenheit und Kontaktfreude steht.
„Wer ökonomisch schreibt, dann auch im wahren Leben mit wenig Einsatz viel erreichen“, urteilt Ploog. Wer dagegen seine Schrift mit vielen Schnörkeln aufpeppt, will damit seine Minderwertigkeitsgefühle verstecken, ist vielleicht auch heuchlerisch.
Die Schrift von Bundeskanzler Gerhard Schröder hat der Graphologe schon analysiert. „Schröder hat eine sehr dynamische Schrift, die Buchstaben sind auf äußerst originelle Art miteinander verbunden. Allerdings läuft er ab und zu Gefahr, Opfer seiner Dynamik zu werden. Das fängt er jedoch durch Intelligenz und schnelles Reaktionsvermögen wieder auf. Insgesamt eine typische Intellektuellenschrift.“
Die Handschriftenkunde hat eine lange Tradition. Schon die Schrift Cäsars wurde von römischen Gelehrten auf ihre Eigenarten untersucht. Eine erste Blüte hatte die Graphologie jedoch im 19. Jahrhundert in Frankreich. Abbé J.H. Michon wurde dort zum Wegbereiter der Schriftpsychologie, in Deutschland folgte Ludwig Klages seinem Beispiel.
Die Ausbildung zum geprüften Graphologen dauert heute drei Jahre. Zurzeit gibt es etwa 600 Schriftanalytiker in Deutschland. Doch es mangelt an Nachwuchs. „Die Graphologie und ihre Möglichkeiten sind hier zu Lande leider noch zu wenig bekannt“, bedauert Ploog, der als Dozent an der Universität München daran arbeitet, sein Fachgebiet populärer zu machen. Die Schriftanalyse kann seiner Ansicht nach mehr als nur ein echtes Testament von einem falschen unterscheiden. Auch ob der Verlobte zu einem passt oder nicht, könne ein erfahrener Graphologe aus der Schrift des Liebsten begründen.
Die Signatur ist das Wunsch-Ich
Das größte Tätigkeitsfeld ist aber die Wirtschaft. Schulabgängern kann zum Beispiel durch ein Schriftgutachten verdeutlicht werden, wo ihre Stärken und Schwächen liegen und welcher Beruf möglicherweise am geeignetsten wäre. Für Personalchefs ist ein graphologisches Gutachten darüber hinaus eine recht billige Art, sich ein Bild von einem Bewerber zu machen. Zwischen 300 und 500 Mark kostet eine Schriftanalyse. „Ein Personalberater kostet um einiges mehr“, sagt Ploog. Die preiswerte Alternative Schriftgutachten nutzen bis jetzt vor allem Versicherungen, die Großindustrie und Unternehmensberatungen, speziell wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht.
Mancher Bewerber fürchtet sich nun davor, dass der Graphologe theoretisch alle seine Eigenarten an den potenziellen Chef weitergeben könnte. Da kann Ploog jedoch beruhigen: „An den Auftraggeber werden nur die für die Aufgabe relevanten Informationen weitergegeben.“ Aus diesem Grund benötigen Graphologen eine genaue Stellenbeschreibung vom Arbeitgeber, auf die hin sie die Schrift eines Bewerbers untersuchen.
Für die Analyse reicht eine beschriebene Seite plus Unterschrift. Einen handgeschriebenen Lebenslauf, der meist in Sonntagsschrift verfasst ist, hält Ploog für wenig geeignet. Die Unterschrift ist für ein graphologisches Gutachten besonders wichtig. „Die Signatur steht für das Wunsch-Ich des Bewerbers, sie entlarvt seinen Ehrgeiz und sein Selbstbewusstsein“, erläutert Ploog. Wenn ein Mensch besonders groß und betont schwungvoll unterschreibt, die sonstige Schrift aber eher klein und krakelig ist, will er mehr scheinen, als er ist. Als Manager wäre dieser Bewerber dann sicherlich nicht geeignet.
Die Schriftmerkmale
Jeder Mensch hat eine charakteristische und einzigartige Schrift. Graphologen können aus den verschiedenen Merkmalen einer Handschrift Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur des Schreibers ziehen.
- Graphologen unterscheiden die Schrift in drei Zonen, in Oberlängen (b, d, h, k, l, t), die Mittelzone und Unterlängen (g, j, p, q, y). Betonte Oberlängen stehen für intellektuelle Interessen und Begeisterungsfähigkeit, aber auch für Oberflächlichkeit. Aus den Unterlängen kann man die „Ausprägung der Triebe“ und der materiellen Interessen ablesen.
- Die Größe der Schrift wird in der Mittelzone gemessen. Je ausladender sie ist, desto mehr Selbstwertgefühl besitzt der Schreiber. Extreme Großschreiber können stolz, großmütig, aufgeblasen oder ichsüchtig sein, andererseits aber auch voller Taten- und Freiheitsdrang.
- Auch die Verbindung der einzelnen Buchstaben ist ein wichtiges Kriterium für Graphologen. Wird beispielsweise ein „m“ wie ein Torbogen geschrieben, zeugt das oft von Verschlossenheit und Zurückhaltung. Im Gegensatz dazu drückt ein wie ein „u“ geschriebenes „n“ Eigenschaften wie Wohlwollen, Freundlichkeit und Weichheit aus, ebenso aber auch Nachgiebigkeit, Unselbständigkeit und Beeinflussbarkeit – je nachdem wie die sonstigen Schriftsymptome aussehen. Menschen, die die Buchstaben „m“ und „n“ fast fadenförmig aufgelöst schreiben, möchten meist ohne viel Anstrengung ihre Ziele erreichen.
- Die Schräglage: Eine sich nach links neigende Schrift wird überwiegend negativ bedeutet. Selbstbezogenheit und übertriebende Selbstbeherrschung werden mit diesem Schrifttyp in Verbindung gebracht. Schreiber mit einer steil aufrechten Handschrift gelten als besonnene Menschen mit wenig Temperament und Nüchternheit bis hin zur Teilnahmslosigkeit. Wer mit Neigung nach rechts schreibt, verrät Interesse an der Umwelt und den Mitmenschen, Wärme und Ungezwungenheit, teils aber auch Unbeständigkeit und mangelnde Disziplin.
- Eine weite Schrift, bei der die Abstände zwischen den Grundstrichen der einzelnen Buchstaben größer sind als die Höhe der Kleinbuchstaben, deutet auf Eifer, Unternehmungslust, Ungeduld und Entfaltungsdrang hin. Eine enge Schrift gilt als beherrscht.
Von Ellen Stickel